Der Auftrag
Schreibe eine Story für ein Restaurant. Die Story soll familientauglich sein und das »Hexen-Fondue« des Betriebes schmackhaft machen. »Hexen-Fondue«?! Ja, das kann selbst (und auch scharf) gewürzt werden und es gibt einige Beilagen dazu, zum Beispiel getrocknete Tomaten, die auch in den Käse getunkt werden können. So zumindest die Antwort der Kunden. »Wie ums Himmels Willen soll daraus eine Story entstehen?«, habe ich mich gefragt. Doch nach und nach ist daraus die Geschichte einer genervten kleinen Tomate geworden, einer Tomate, die immer zu kurz kommt. Lesen Sie selbst…
Die Story
Es war einmal eine Tomate, die hing an einem Strauch. Jeden Tag badete sie in der Sonne und wurde dabei röter und röter. Manchmal regnete es, aber auch das genoss die kleine Tomate, denn gemeinsam mit ihrem Strauch wuchs sie und wurde grösser und grösser.
«Schon wieder. Können die mich nicht endlich mal drannehmen? Ich finde das echt bemühend. So ein Mist. Ich kann machen, was ich will, ich komme einfach nicht dran. Immer gehe ich leer aus! Da bin ich endlich raus aus der Küche und auf dem Tisch – und dann komme ich einfach nicht zum Zug. Das war ja schon von Anfang an so: Am Strauch war ich die Letzte, die abge- nommen wurde.
Ach waren das Zeiten: Ich hing an meinem Strauch, streckte mich nach der Sonne und räkelte mich im Regen. Die Freude in den Augen des Bauern zu sehen, wenn er mich begutach- tete, das hat schon gutgetan. Und dann hat er mich fast vergessen! Blöder Bauer.
Unvermittelt war ich zwei. Hat das weh getan! Ich habe nur noch die Hände gesehen, die auf mich zukamen, mich packten und die scharfe Klinge, die auf mich herunterfuhr, mich teilte. So begann die endlose Zeit in der Sonne. Blind lag ich da, zugedeckt und heilte langsam. Begleitet von den leisen Stimmen der Bäuerinnen und ih- ren Erzählungen. Und mit Salz in meinen Wun- den. Tag um Tag wurde ich weniger. Weniger rot, weniger pausbäckig, weniger gross. «Weisst Du eigentlich, dass wir, wenn wir trocknen, die Sonne in uns schmeckbar machen?», hörte ich eine Stimme. «Wer bist Du?», fragte ich. «Na Deine andere Hälfte, wer sonst?» Was sie wohl mit «wir trocknen» meinte? Wahrscheinlich das Schrumpeln.
Einmal, ein einziges Mal in meinem Leben kam ich als erste dran: Eine Hand packte mich und steckte mich in ein Glas. Für ein paar Sekun- den war ich allein, als schon meine andere Hälfte neben mich fiel und gleich ganz viele andere auf uns drauf. Die waren ganz schön schwer, doch urplötzlich wurde mir ganz leicht wohlig – umgeben von Flüssigkeit. «Das ist Olivenöl, Du Dummerchen», lächelte meine andere Hälf- te, «darin bleiben wir schön und fein». Habe ich schon gesagt, dass ich mit meiner anderen Hälf- te nicht mehr rede? Diese unerträgliche, ständi- ge Fröhlichkeit! Und mich dann auch noch als «Dummerchen» anreden! Ich weiss zwar nicht, was das ist, aber sicher nichts Nettes.
Und so wurde es dunkel um uns. Es rüttelte und schüttelte. Fast hätte ich mich… Aber lassen wir das. Als es wieder etwas heller wurde, stand unser Glas ganz weit hinten in einem Regal – wieder musste ich warten, warten, warten. Dann kam die Küche mit ihren feinen Düften und ich musste zusehen, wie die anderen nach und nach aus dem Glas genommen wurden. Angeblich für ein Hexenfondue, um den Käse zu bereichern.
Und jetzt? Jetzt stehe ich auf dem Tisch. Und warte. Sogar die unter mir waren noch vor mir dran. Dabei bin ich so gross und rot, selbst jetzt, wo ich nur halb bin. Ich sehe die glänzenden Au- gen, höre die freundlichen Stimmen und Kinder- lachen. Ich will jetzt endlich drankommen und den Käse würzen! Immer ich. Immer als letzte. Ich kann mich strecken und rufen. Nichts hilft. Hört mich denn keiner?»
Und so hätte die kleine Tomate die Stimme fast nicht gehört: «Mmh, auf die habe ich mich schon den ganzen Abend gefreut, die sieht so gut aus…»
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Und so sah die Story im Layout des Newsletters aus.
Credits
Auftraggeber: Gasthaus Zwirgi, Schattenhalb
Gestaltung: Raphael Baumann, Graphicdesigner, Horgen
Druck: Pauli Druck, Meiringen
Eine Arbeit von © Matthias Nold | Kommunikationskultur